Mats Bauer
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Interview

Techniktrends im stationären Handel

Drei Fragen an: Mats Bauer, Agentur New Communication, Fachmann für Handelsmarketing

cima: Herr Bauer, wie steht es um den großen (technischen) Wandel im Handel in Deutschland?

BAUER: Auf den prognostizierten technischen Wandel im Handel blickt man zunächst mit Ernüchterung. Große Trends wie Radio-Frequency Identification (RFID) oder Beacons wurden über Jahre gehypt und in Future- und Konzept-Stores getestet. Doch am Point of Sale sind hierzulande beide Technologien noch nicht eingezogen. Jedoch scheint der europäische Handel beim Thema Beacons seine Skepsis langsam zu verlieren. Ende 2016 starteten mehrere Händler mit ernst zu nehmenden Anwendungen, die über das Stadium von Feldversuchen weit hinausgehen. Immer mehr Händler sehen die Möglichkeit, Beacons in ihre Omni-Channel-Strategien einzubinden. Das erstreckt sich vom Sammeln von Bonuspunkten bis hin zur Benachrichtigung von Kunden über Sonderaktionen. Folgende sechs Trends sind technische Innovationen, an denen sich der Handel in Deutschland aktuell orientieren kann:

  1. Produktsuche per Bild
  2. Mobile Payment
  3. O2O – offline to online
  4. QR-Codes im Überfluss
  5. Virtual Reality-Stores
  6. Nie mehr Schlange stehen

cima: Erläutern Sie uns bitte diese Trends. Beginnen wir mit de QR-Codes. Die sind bereits weit verbreitet. Was ist daran Trend?

BAUER: In Deutschland sind sie zwar weit verbreitet – werden aber kaum genutzt. Weniger als eine Million der deutschen Smartphone-Besitzer nutzen regelmäßig QR-Codes. In China hingegen sind sie nicht mehr wegzudenken. Teilen, kaufen und bezahlen – für alles werden QR-Code-Scanner und QR-Generatoren genutzt. Dieses Tool für Digital-Commerce-Transaktionen verbindet die On- und Offline-Welt. Deshalb meine Trendprognose für Deutschland: QR-Codes im Überfluss.

Weiter mit der Produktsuche per Bild. Stellen Sie sich vor, Sie fotografieren einen schönen Gegenstand, kennen aber weder den Hersteller noch einen Händler, der das Produkt verkauft. Für solche Fälle bietet das chinesische Online-Auktionshaus Taobao bereits seit über drei Jahren eine Produkt-Bildersuche an. Per Drag and Drop wird das Foto in die Suchleiste gezogen. Schon werden hunderte gelistete Händler nach dem Wunschobjekt durchkämmt. Diese Idee ist so praktisch für den Kunden, dass sie sich eigentlich durchsetzen müsste. Vor allem ist die Idee auch eine Chance für lokale stationäre Händler – wenn diese in der Liste vorkommen.

Zum Trend Mobile Payment. Hier sind sowohl die stationären Händler, als auch die Kunden in Deutschland noch deutlich zurückhaltend. Ja, circa 70 Prozent der Deutschen haben noch kein Mobile Payment genutzt. Aber unser nördlicher Nachbar macht es vor: Mehr als die Hälfte aller Dänen nutzen schon jetzt das Bezahlsystem MobilePay. Mit der App bezahlen die Nutzer bargeldlos in über 3.000 Webshops, bei Baumärkten und weiteren großen Händlern. Der Annahmezwang für Bargeld bei Einzelhändlern ist zum Teil bereits aufgehoben. Noch anders stellt sich die Nutzung in China dar. An nahezu jeder U-Bahnstation finden sich Getränke-Automaten mit mobiler Bezahl-Möglichkeit. Das funktioniert so: Das gewünschte Produkt auswählen, Code scannen und schon ist die Bezahlung getätigt. In der Gastronomie, dem On- und Offline-Handel sowie im Service-Bereich ist dieses Prinzip ebenfalls Standard. Der Anbieter Alipay verzeichnet zurzeit 450 Millionen aktive Nutzer. Täglich! Die Kommunikations-App WeChat hat über 200 Millionen Nutzer mit Payment-Konten. Der deutsche Handel kann von solchen Zahlen aktuell nur träumen.

Offline to Online (O2O ) steht für eine Entwicklung, die konkrete Auswirkungen auf die Nutzung der Immobilien in unseren Innenstädten hat. Das Geschäft dient „nur“ noch als Showroom. Wieder ein Beispiel aus China: Septwolves gehört zu den besten chinesischen Textilmarken. Sie wird offline to online angeboten. In den Geschäften des Labels wählt und bestellt der Kunde die Artikel auf interaktiven Displays. Die Ware wird direkt nach Hause versandt.

Vom Trend der virtuellen Realität (VR) hat fast jeder zumindest eine Vorstellung, seit die VR-Brillen im Massenmarkt angekommen sind. Aber funktionieren Virtual-Reality-Stores? Wieder der Blick nach China. Der Handelsriese Alibaba entwickelte einen VR-Video-Player und kreiert VR-Welten. In einem virtuellen 360°-Shop stehen Fashion-Produkte aus über 70 Shops zur Wahl. Die Artikel können dabei in hoher Detailtiefe in 3D an Models betrachtet werden. Ein interaktiver Shopping-Guide führt durch das Geschäft und leitet die Kunden zu den passenden Produkten. Ein Coup: Das New Yorker Kaufhaus Macys hatte bei Alibaba vorübergehend einen Shopping-Kanal eingerichtet. Chinesische Kunden konnten per VR durch das Geschäft an der 7th Avenue bummeln und nach Herzenslust shoppen. Die Aktion diente als Probelauf, inwiefern VR-Shopping ein neues Einkaufserlebnis bietet und langfristige Kundenbindung sichert. Auch andere internationale Marken experimentieren bei Alibaba mit Virtual-Reality-Shopping.

Mein letzter Trend Nie mehr Schlange stehen scheint sehr attraktiv für müde Dauer-Shopper. Im Dezember 2016 stellte Amazon in Seattle einen weiteren Donnerschlag in Sachen Innovation vor: Der erste Test-Supermarkt ohne Kasse und ohne damit verbundenes Schlangestehen. Brillant sind Technik und Idee, die dahinterstecken: Sensoren, Kameras und lernende Algorithmen verfolgen den Kunden auf dem Weg durch den Lebensmittelmarkt Sie erkennen, was er in seinen Einkaufskorb lädt. Beim Verlassen des Geschäfts wird automatisch per App abgerechnet. Und jetzt komme ich wieder zum Anfang zurück: Der erfolgreiche Einsatz dieser Technik würde das Thema Radio-Frequency Identification endgültig begraben und die Entwicklung im Bereich Mobile Payment enorm beeinflussen.

cima: Und was ist Ihre Einschätzung zur Sogwirkung der erwähnten Innovationen hinsichtlich der Anwendung auf dem deutschen Markt?

BAUER: Aktuell passieren Innovationen im deutschen stationären (Lebensmittel-)Handel größtenteils auf strategischer Ebene. Die klassischen Discounter drängen mit ihren Angeboten und Laden-Konzepten immer stärker in Richtung Supermarkt. Zumindest im Bereich Mobile Payment hat man erste technische Voraussetzungen geschaffen, um den genannten Trends zu folgen. Noch mangelt es aber an der Akzeptanz der Kunden. Ähnlich verhält es sich beim Thema Beacons und VR-Shopping. Noch fehlen dem hiesigen Kunden Mehrwerte, um diese Technologien im Alltag zu nutzen, um die technischen Hemmnisse zu überwinden. Oder um in die benötigte Hardware zu investieren. Das sollte aber eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein. Man darf gespannt sein

cima: Vielen Dank!

bauer@new-communication.de
www.new-communication.de

KOMMENTAR // Christian Kramer, cima
Die Digitalisierung ist bekanntlich mit Technik verbunden. Dank des Erfindergeistes und den technischen Möglichkeiten werden eine Reihe von Produkten entwickelt, die anfangs gerne oft und laut kommuniziert werden. Aufgeladen mit viel Informationen und Emotionen sind Innovationen der vermeintliche „Heilsbringer“. Das kann stimmen, muss aber nicht. Was gerne übersehen wird: Technik hat keinen Selbstzweck – sie muss einen Nutzen erfüllen und entweder ein Problem lösen oder eine bisherige Lösung effizienter machen. Und rechnen sollte sie sich am Ende bitteschön auch noch. Erfahrungsgemäß wird Technik günstiger je stärker sie sich verbreitet. Für jeden potenziellen Nutzer ist es ein Spagat zwischen „frühzeitig vom Nutzen profitieren“ und „günstig einkaufen“. Wichtig ist dabei, interessiert und in einer frühen Phase, relevante, technische Neuentwicklungen zu erkennen und im Auge zu behalten. Entscheidend wird nämlich sein, was nach dem Rummel passiert: Viele Innovationen verbrennen – wenige schaffen es in die Breite.

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