Sozial nachhaltige Stadtentwicklung
Beitrag von Prof. Tim Rieniets, Leibniz Universität Hannover
Seit einiger Zeit rückt der sich gegenseitig bedingende Zusammenhang von Raum und Gesellschaft stärker in den Fokus. Für Prof. TIM RIENIETS, Leibniz Universität Hannover, ist damit einhergehend ein Forschungsfeld entstanden: Sozial nachhaltige Entwicklung unserer Städte.
Vor allem große Städte ziehen Menschen an und so lebt heute bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Diese Urbanisierung ist eine Erfolgsgeschichte. Das legen auch statistische Daten nahe, denn es gibt eine enge Korrelation zwischen dem Verstädterungsgrad eines Landes und seinen sozialen Indikatoren wie Wohlstand, Bildung oder Lebensqualität: Je mehr Menschen eines Landes in Städten leben, um so größer der Wohlstand und die Entwicklung der Bevölkerung.
Migranten brauchen unsere Städte. Unsere Städte brauchen Migranten.
Auch deutsche Städte sind Anziehungspunkte für Menschen aus aller Welt. Spitzenreiter ist die Stadt Frankfurt am Main, die als erste Stadt Deutschlands mehr Menschen mit Migrationshintergrund beheimatet als Menschen ohne. Zwar bilden Deutsche dort die größte Bevölkerungsgruppe, aber nicht die Mehrheit. Doch das ist alles nur Statistik. Denn wer einen Migrationshintergrund hat und wer nicht, erklärt sich nicht von selbst, sondern beruht auf komplizierten (und durchaus diskutierbaren) Definitionen.
Genau so wenig erklärt sich von selbst, wer fremd ist und wer dazu gehört. Wer in einer Stadt lebt, dem sind (fast) alle Menschen fremd. Stellt sich die Frage, warum Millionen von Menschen Jahr für Jahr ihre Heimat verlassen, um sich in einer fremden Stadt unter Fremden niederzulassen. Die Antwort ist einfach: Weil sie auf bessere Lebensperspektiven hoffen. In Städten finden sie eine größere Auswahl auf dem Arbeitsmarkt, mehr soziale, kulturelle und religiöse Angebote, mehr Konsummöglichkeiten, Freizeitangebote usw. Aus diesen Gründen sind auch deutsche Städte ein Ziel für Migranten – nicht nur heute, sondern auch schon in der Vergangenheit. Deutschland hat Landflucht und Verstädterung bereits im 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchlaufen. Damals erlebten unsere Städte einen großen Zustrom von Zuwanderern. Erst von der verarmten Landbevölkerung, dann von Kriegsflüchtlingen und später von sogenannten Gastarbeitern. Hunderttausende von ihnen arbeiteten als geringqualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie. Ohne sie wäre die Industrialisierung und das deutsche Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen. Dass unsere Städte für diese Menschen Sehnsuchtsorte waren, die Frieden, Wohlstand und sozialen Aufstieg versprachen, ist uns heute kaum noch bewusst. Darum fehlt es einigen in unserer Gesellschaft auch an Verständnis für Zuwanderer, die heute mit denselben Erwartungen zu uns kommen. Erst recht fehlt es unserer Gesellschaft an Verständnis dafür, dass wir auf die Zuwanderer angewiesen sind – schon aus demografischen Gründen. Denn ohne den Zuzug von außen und ohne die vergleichsweise hohe Kinderzahl von Migranten könnten unsere Städte ihre Bevölkerungszahl nicht halten. In vielen Wirtschaftsbereichen sind Menschen mit Migrationshintergrund unverzichtbar geworden, zum Beispiel in der Gastronomie, der Pflege, im Handwerk und in bestimmten Dienstleistungs- und Einzelhandelssegmenten.
Unter Fremden leben zu können ist eine zivilisatorische Errungenschaft
Für eine städtische Gesellschaft ist es von existenzieller Bedeutung, dass sie über die Eigenschaft verfügt, Fremde aufnehmen zu können. Diese Eigenschaft liegt keineswegs in der Natur des Menschen, sondern ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Erst vor rund 10.000 Jahren, als die ersten städtischen Ansiedlungen entstanden, begann der Homo sapiens das Zusammenleben in städtischen Gesellschaften zu lernen. Heute verfügen wir über ein großes Repertoire an sozialen und kulturellen Techniken: Wir haben gelernt, die Grundversorgung für uns und unsere Kinder (zum Beispiel Ernährung, Ausbildung, medizinische Versorgung etc.) in die Hände anderer zu legen. Wir haben Mittel und Instrumente entwickelt, um Konflikte gewaltfrei beizulegen. Und wir wissen, wie man in einer überfüllten U-Bahn fährt, ohne die Intimsphäre der Mitreisenden zu verletzen.
Stadt als Forschungsfeld
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Menschen in einer Stadt zusammenleben. Vor allem die Soziologie hat Bahnbrechendes geleistet und eine eigene Teildisziplin, die Stadtsoziologie, hervorgebracht. Auch Ethnografie, Migrations- oder Genderforschung haben verschiedenste Aspekte des Stadtlebens ins Licht der Wissenschaft gerückt. Erst seit den 1990er Jahren ist in den Sozialwissenschaften das Bewusstsein gewachsen, dass der städtische Raum kein »Bühnenbild« ist und dass man Raum und Gesellschaft nicht getrennt voneinander, sondern als Wechselbeziehung betrachten muss. In diesem Sinne könnte man die Stadt als eine räumliche Anordnung betrachten, die einerseits durch gesellschaftliche Prozesse hervorgebracht wird und andererseits auf dieselben zurückwirkt.
Zeitgenössische Forschungen, die dieses Thema bearbeiten, sind rar. Auch in den bauschaffenden Disziplinen – gemeint sind Architekten, Stadtplaner, und andere Akteure, die für die Herstellung städtischer Räume verantwortlich sind – haben sich bisher nur wenig mit diesem Thema befasst. Zwar wird in diesen Disziplinen intensiv über soziale Fragen der Stadt diskutiert, etwa über den aktuellen Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder über die Gentrifizierung sozial schwacher Stadtteile, aber auch diese Diskussion bleibt räumlich abstrakt.
Neue Problemstellungen gibt es aber zuhauf, ganz besonders dort, wo unsere Städte von starker Zuwanderung und Diversifizierung geprägt sind. Das Zusammenleben in diesen Städten wird in Zukunft nicht einfacher werden und unser Erfahrungsschatz könnte womöglich nicht mehr ausreichen, um die entstehenden Herausforderungen zu lösen. Hier tut sich ein großes und gleichermaßen aktuelles Forschungsfeld auf, dem sich die Professur für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Universität Hannover verstärkt zuwenden und intensiv bearbeiten möchte.
Autor: Prof. Dipl.-Ing. Tim Rieniets hat 2018 die Professur an der Fakultät für Architektur und Landschaft nach Stationen an der ETH Zürich sowie an der TU München die Abteilung Stadt- und Raumentwicklung übernommen. Unmittelbar zuvor war er als Geschäftsführer der Landesinitiative StadtBauKultur NRW tätig.
Kontakt: rieniets@staedtebau.unihannover.de
- Dieser Artikel erschien zuerst in: LeibnizCampus, Magazin der Leibniz Universität Hannover
- Foto: www.martitz.de