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Interview

Perspektivgespräch: Zukunft Einzelhandel?!

Einzelhandel und Stadtentwicklung im Zeichen von strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen

 

Dazu im Perspektivgespräch:

  • SABINE HAGMANN, Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbandes Baden-Württemberg,
  • SASCHA JOST, Geschäftsführer des Handelsverbandes Baden-Württemberg,
  • ROLAND WÖLFEL, Geschäftsführer der CIMA Beratung + Management GmbH,
  • DR. STEFAN LEUNINGER, Büroleiter der CIMA Beratung + Management GmbH, Stuttgart

 

cima.direkt: Gemäß den Ergebnissen des aktuellen bundesweiten cima.Monitors stellt der Einzelhandel nach wie vor eine wichtige Frequenzfunktion für die Innenstädte dar. Wie bewertet der Handelsverband die aktuelle Situation und die aktuellen Herausforderungen und Perspektiven des Einzelhandels?

SABINE HAGMANN: Die Pandemie ist Gott sei Dank mittlerweile vorbei. Allerdings wirkt Corona – insbesondere was die Umsätze und die Frequenzen anlangt – bis zum heutigen Tage nach. Wir haben in den allermeisten Städten die Frequenz-Niveaus von vor 2019 nicht wieder erreicht und auch wenn es einige gute Beispiele gibt, so ist der Großteil der Innenstädte momentan – und leider auch künftig – von deutlichen Rückgängen der Passantenzahlen betroffen. Wir gehen insofern von durchschnittlich 20% weniger Besuchenden in den Innenstädten aus. Dies ist eine ganz klare Folge der Pandemie, die sich auch künftig nicht gänzlich wird, zurückdrehen lassen. Dazu trägt selbstverständlich auch der nach wie vor steigende Online-Anteil vor allem bei Nonfood-Waren und den klassischen innenstadtrelevanten Sortimenten bei. Besucher*innen, die gar nicht erst in die Stadt kommen, können den stationären innerstädtischen Handel nicht unterstützen, der nebenher auch mit vielen weiteren Problemen zu kämpfen hat. Fehlende Liquidität, fehlendes Fachpersonal, steigende Mieten, teure oder keine Parkflächen, strenge baurechtliche Auflagen und demnächst auch steigende Kosten bei der Grundsteuer, seien hier nur stichpunkthaft genannt. Eines der wichtigsten Themen ist aktuell die Erreichbarkeit unserer Cities. Dabei spielt es für die Händler*innen gar keine Rolle, wie die Menschen in die Städte kommen, ob mit Bus oder Bahn, dem Rad, zu Fuß oder dem eigenen PKW – die Hauptsache ist dabei, DASS die Menschen in die Stadt kommen und dies auf bequeme Art und Weise tun können. Dabei sollte es den Besuchenden aber grundsätzlich selbst überlassen bleiben, mit welchem Verkehrsmittel sie anreisen möchten – insofern sollten aus unserer Sicht ALLE Verkehrsträger gleichbehandelt werden, dies gilt auch für den motorisierten Individualverkehr, auf den die Menschen angewiesen sind, insbesondere, solange die Angebote des ÖPNV nicht entsprechend attraktiv sind. Wenn also, wie in allen Studien immer wieder bestätigt wird, der Einzelhandel die wichtigste Magnetfunktion für den Besuch einer Innenstadt ist, so muss allen verantwortlichen Akteuren, allen voran den Kommunen, an einem stabilen und prosperierenden Einzelhandel gelegen sein. Auf Aufenthaltsqualität, ÖPNV und Erreichbarkeit der Cities haben Händler*innen allerdings nur bedingt Einfluss. Daher fordern wir die öffentliche Hand auf, alle notwendigen Schritte umzusetzen, damit ein gesunder und abwechslungsreicher Handel, die Innenstädte zum Wohle aller auch weiterhin beleben kann.

cima.direkt: Mit dem Stadtmarketingpreis Baden-Württemberg  hat der Handelsverband BW – mit Unterstützung der cima – bereits seit Jahren ein anerkanntes Instrument zur Aktivierung von neuen Ideen und Maßnahmen der Stadtentwicklung und des Stadtmarketings umgesetzt. Wie sieht ein Zwischenfazit aus?

SASCHA JOST: Der Stadtmarketingpreis Baden-Württemberg ist seit seiner erstmaligen Ausschreibung im Jahr 2007 ein echter Erfolg. Mittlerweile konnte eine Vielzahl hervorragender Stadtmarketingprojekte landauf, landab durch das Wirtschaftsministerium, das seit Beginn Schirmherr des Wettbewerbs ist, ausgezeichnet werden. Dabei haben oftmals herausragende Projekte als Blaupause für andere Kommunen gedient und damit der Idee des „voneinander Lernens“ Rechnung getragen, worüber wir uns sehr freuen Auch in diesem Jahr wird der Preis wieder in drei Größenklassen verliehen. Der cima sind wir für die fachliche und inhaltliche Begleitung des Wettbewerbs sehr dankbar.

ROLAND WÖLFEL: Mit dem Stadtmarketingpreis haben wir es geschafft die Verbreitung guter Projekte in und über Baden-Württemberg hinaus zu forcieren. Qualität und Bestleistungen werden somit multipliziert und die Umsetzung in vielen Städten beschleunigt, Städte tauschen sich aus, besuchen sich helfen sich gegenseitig bei der Umsetzung. Es ist also nicht nur ein „Preis“, sondern vor allem ein Umsetzungskatalysator. Die Auszeichnung stärkt die Initiativen vor Ort – Verbreitung bringt Effizienz und Sicherheit für viele Städte, die davon lernen.

cima.direkt: Das Wirtschaftsministerium des Landes führt gegenwärtig den von der cima betreuten „Ideenwettbewerb für Einkaufserlebniskonzepte im stationären Einzelhandel“  durch. Wie bewerten Sie Ansatz, Resonanz und beobachtbare Aktivitäten?

DR. STEFAN LEUNINGER: Der ausgelobte Ideenwettbewerb für den stationären Einzelhandel hat sich als ein sehr „niederschwelliges Innovationsangebot“ gezeigt. In unseren Startgesprächen und laufenden Abstimmungs-Workshops mit den ausgewählten 31 Einzelhändler*innen hat sich gezeigt, dass es eine Reihe von kundenorientierten Ansatzpunkten gibt, um den Einzelhandel auch zukünftig als wichtige Leitfunktion der Innenstädte und Ortszentren zu stärken. Interessant für die cima war insbesondere die Tatsache, dass zahlreiche Einzelhandelsbetriebe Interesse haben, bzw. die Notwendigkeit sehen, betriebsübergreifende Konzepte weiterzuentwickeln. Ein gutes Signal in Richtung Citymarketing und -management!

SABINE HAGMANN: Insbesondere der stationäre Handel braucht kluge Ideen und Innovative Konzepte, die ihn gegenüber der Konkurrenz aus dem Netz sichtbar und für die Kundschaft attraktiv machen. Infolge der Pandemie, aber auch vor dem Hintergrund der vielen anderen bereits erwähnten Herausforderungen, fehlen den kleinen und mittleren Handels-Betrieben häufig die Mittel, um sich diesen wichtigen Herausforderungen adäquat zu stellen. Der in Bezug auf die Teilnahme-Anforderungen niederschwellige Ideenwettbewerb hat durch eine umfangreiche Förderung sowohl die finanziellen als auch die personellen Spielräume geschaffen, dass sich auch kleine Betriebe trotz begrenzter Kapazitäten mit pfiffigen Projektideen bewerben konnten – dies ist absolut erfreulich. Die geplanten Kurzvideos und Clips über besonders hervorstechende Preisträger werden einem interessierten Publikum konkrete Einblicke in die Projekte ermöglichen und damit hoffentlich viele andere – weit über den Wettbewerb hinaus – zum Nachahmen anspornen. Wir können die Landesregierung insofern nur ermutigen, auch andere Förderprogramme so niederschwellig wie irgend möglich zu gestalten – die Umsetzung des Ideenwettbewerbs ist ein hervorragendes Beispiel dafür.

ROLAND WÖLFEL: Dieser niedrigschwellige, klar auf konsequente Umsetzung und Zukunftsinvestitionen fokussierte Wettbewerb zeigt ganz klar was ankommt und wäre eine gute Blaupause für weitere Initiativen und Förderprogramme. Klare Zielrichtung, klarer Nutzen für Teilnehmende, hoher Umsetzungs- und Innovationsdruck, professionelle inhaltliche und organisatorische Begleitung! Nichts für Haderer und Bedenkenträger. So kann dieser Ansatz auch auf die Innenstadt oder andere transformationsbetroffene Branchen übertragen werden und würde einen ähnlichen Umsetzungsschub auslösen. Andere Bundesländer wie z. B. Bayern, NRW oder Hessen haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht. Es wurde auch deutlich wie wichtig die Rolle des Handelsverbandes als „verlängerter Arm“ in die Betriebe und Kommunen ist. Mit seiner Vernetzung und Branchenkenntnis konnten schnell offene, innovations- und veränderungsbereite Unternehmen angesprochen und motiviert werden. Extrem erfreulich ist, dass so viele unterschiedliche, für viele Betriebe adaptierbare Projekte, entstanden sind, die alle Bereiche des betrieblichen Erfolgs – von Digitalität über Ladengestaltung, Produkten bis zu den Mitarbeiter*innen abbildet.

cima.direkt: Die Landesregierung hat unter Federführung des Wirtschaftsministeriums und des Wohnbauministeriums den Beirat „Einzelhandel und Innenstadt“ ins Leben gerufen. Sowohl cima als auch der Handelsverband sind als Mitglieder in den Beirat berufen worden. Wie wird dieser Ansatz bewertet und gibt es ein erstes Zwischenfazit?

SABINE HAGMANN: Die Einrichtung des Beirats geht auf eine Forderung des Handelsverbandes Baden-Württemberg zurück. Bemerkenswert ist, dass der Beirat von gleich zwei wichtigen Ministerien und dort von den jeweiligen Hausspitzen getragen wird. Wir sind daher sehr dankbar, dass das wichtige Thema Innenstadt bei der Politik auf höchster Ebene angekommen ist und die wesentlichen Player hier Gehör finden. Es muss nun künftig darum gehen die in den allermeisten Fällen allseits bekannten Probleme mit konkreten Maßnahmen und Lösungsansätzen anzugehen, um die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung der Herausforderungen zu unterstützen – dies bedingt sicher auch finanzielle Unterstützung der Kommunen an der einen oder anderen Stelle. Ziel soll und muss es sein, nicht nur Probleme zu beschreiben, sondern die Kommunen in die Lage zu versetzen, die konstatierten Probleme auch zu lösen.

cima.direkt: Kommunalentwicklung und Einzelhandelsentwicklung stehen in manchen Kommunen in einer gewissen „Spannungsverhältnis“. Erreichbarkeit, Sauberkeit der Innenstädte oder Leerstandsentwicklungen machen gemeinsame, abgestimmte Strategien deutlich. Gibt es hierzu praktische Lösungsansätze?

ROLAND WÖLFEL: Ich habe noch kein Problem erlebt, wozu eine andere Stadt oder Standortgemeinschaft nicht schon eine gute, übertragbare Lösung entwickelt hat. Wichtig ist den Know-How-Transfer gut zu organisieren. Dazu braucht es gemeinsame Plattformen und Netzwerke wie die vom HDE und den Handelsverbänden initiierten Stadtimpulse. Weit über 1.000 Projektabrufe, gut 100 geprüfte Best-Practices sprechen eine eindeutige Sprache. Sobald dieses Wissen multipliziert und vor Ort eingesetzt wird, funktioniert es. Gemeinsam abgestimmte, integrierte inhaltliche Strategien sind die inhaltliche Basis für den Erfolg. Dazu kommt eine gute Kooperationsstruktur und -kultur.

DR. STEFAN LEUNINGER: Unsere aktuellen Beratungs- und Projektmanagementleistungen für Kommunen, z. B. im Rahmen des Bundesförderprogramms ZIZ „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“, zeigen deutlich, dass die Kooperation und das „Mitnehmen“ aller Akteure zentrale Rahmenbedingungen für notwendige Veränderungsprozesse bietet. Vielerorts gelingt es mit dem Motto „Auch mal was ausprobieren!“ – mit finanzieller Unterstützung von privat-öffentlich getragenen Verfügungsfonds wie in den Mittelstädten Heidenheim und Albstadt.

cima.direkt: Sowohl auf der Bundesebene als auch in zahlreichen Bundesländern gibt es mittlerweile Initiativen und Förderprogramme zur Unterstützung des innerstädtischen Einzelhandels. Baden-Württemberg als großes und bedeutendes Flächenland hat sehr unterschiedliche Herausforderungen. Welche zusätzliche Unterstützung von Landesseite würden Sie sich wünschen?

SABINE HAGMANN: Zunächst sei anerkennend gesagt, dass Baden-Württemberg seit vielen Jahren hohe Summen in die Sanierung und Modernisierung seiner Städte und Gemeinden investiert. Dabei gilt es der besonderen Herausforderung von einerseits städtischen Räumen und Ballungszentren, aber auch einer großen Anzahl von Kommunen im ländlichen Raum gerecht zu werden. Für die Vielzahl an unterschiedlichen Programmen sind wir der Landesregierung sehr dankbar. Gleichwohl braucht es, gerade vor dem Hintergrund der beschriebenen großen Herausforderungen, eine echte und vor allem stetige Förderung insbesondere des innerstädtischen Handels.

SASCHA JOST: Ich würde mir wünschen, dass die Landesregierung bei der Einrichtung künftiger Förderprogramme den Mut hat, auch unkonventionelle Projekte unbürokratisch und niederschwellig zu unterstützen. Durchaus auch mit Gefahr des Scheiterns. Aber Grundsatz sollte sein: Einfach machen! Ich habe oftmals den Eindruck, dass Förderprogramme zu regulatorisch, zu statisch und zu unflexibel sind und damit ihre Attraktivität auch für die Fördernehmer*innen verlieren.

Vielen Dank für die Einordnung!

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Der Einzelhandel spielt oft eine Schlüsselrolle für die städtebauliche Entwicklung und für die Standortattraktivität eines Ortes. Gleichzeitig steht kaum ein anderer Wirtschaftsbereich so unter ständigem Veränderungsdruck. Erfharen Sie mehr über die Kompetenz der cima in der Handels- und Standortanalyse und die Kenntnisse in Fragen des stationären und Online-Handels unter

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cima-direkt-2-2023

Dieser Beitrag erschien im cima.direkt Magazin 2/2023 mit dem Titel: Schlüsselrolle Innenentwicklung.

Als cima wollen wir Perspektiven aufzeigen, auf die drängenden Fragen einer zukunftsgerechten und nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung. Mit dieser Magazinausgabe richten wir den inhaltlichen Fokus auf die städtebauliche Strategie der Innenentwicklung, da sie ein zentraler Baustein ist, um Städte und Gemeinden im Sinne einer nachhaltigen und ressourcenschonenden Entwicklung zu gestalten.

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