Digitalisierung tut weh – dann haltet es, verdammt nochmal, aus!
Digitalisierung ist schmerzhaft. Sie frisst Zeit und finanzielle Ressourcen. Die Frage ist aber nicht, ob in digitale Systeme und Online-Konzepte investiert werden muss, sondern wann. Dies gilt vor allem auch für den Innenstadthandel. Vermeintlich einfache Lösungen sind ein Trugschluss. Es mangelt aber nicht an Technologie, sondern an Veränderungsmanagern.
Die Digitalisierung ist ein schmerzlicher Transformationsprozess für all jene, die sich nicht schon früh auf ein neues Konsum- und Nutzungsverhalten eingestellt haben. Im Handel ist dies symbolhaft die elektronische Warenwirtschaft samt Echtzeitbestandsführung und umfänglicher Produktdaten, in der Gastronomie ein modernes Kassen- und Reservierungssystem, im kulturellen Betrieb eine intuitive Ticketinglösung, in der Hotellerie eine avancierte Buchungsplattformstrategie, in den Behörden der meist überfällige Relaunch des städtischen Portals und finanzierbare Smart-City-Strategien und in lokalen Interessen- und Werbegemeinschaften eine gemeinsame Online-Präsenz mit wirklicher Relevanz.
In den kommenden zwei Jahren, davon bin ich überzeugt, werden im innerstädtischen Handel entscheidende Weichen gestellt werden. Es wird sich zeigen, ob es Standorten gelingt, auch den digitalen Raum mit Infrastrukturen und Maßnahmen im Sinne des digitalen Dachmarketings zu bespielen. Anders ausgedrückt: Gelingt es den innerstädtischen Akteuren nicht, die virtuelle Weihnachtsbeleuchtung in Google aufzuhängen, RoPo-Effekte zu erzeugen und Kaufkraft auch online-lokal zu binden, dann wird es schwer werden, Frequenzverluste und Umsatzeinbußen aufgrund des nach wie vor wachsenden Online-Handels wenn schon nicht zurückzugewinnen so doch wenigstens zu stoppen.
Auch die CIMA legt in einer aktuellen Wiederauflage der Studie „Gemeinsam online?“ (PDF-Download) als Umfrage in Niedersachen den Finger in die Wunde des lokalen Einzelhandels:
„(…) Unkenntnis gepaart mit dem objektiv vorhandenen Problem wenig Zeit und Ressourcen für die Online-Präsentation zu besitzen, führen zu einem unguten Stillstand, der die Lücke zwischen den großen Online-Händlern (die teilweise auch stationär anbieten) und dem stationären Facheinzelhandel weiter vergrößert.“ (CIMA 2017, S. 13)
Gleichwohl wissen auch die Kommunalberater der CIMA, dass dem Stadtmarketing und City-Management damit ein Thema „vor die Füße“ gefallen ist, das man schnellstens proaktiv angehen sollte. „Das Stadtmarketing oder die Werbegemeinschaften müssen agieren“, heißt es in der Studie, zu der 126 Personen aus dem kommunalen Umfeld und aus Werbegemeinschaften sowie 115 Händler befragt wurden.
„Wenn nur reagiert wird – sei es auf die aktiven Händler der eigenen Innenstadt oder auf Dienstleister von außen mit der vermeintlichen Ideallösung – ist es meist zu spät.“ (CIMA 2017, S. 18)
Immerhin sind 7 % der befragten niedersächsischen Städte und Kommunen mit einem lokalen Online-Marktplatz im Netz und 29 % planen dies für die Zukunft. Die CIMA kommt in der Veröffentlichung vom Februar 2017 dennoch zu dem Schluss, dass den meisten Städten und Gemeinden in Niedersachsen eigentlich „eine gute und aktuelle Übersicht über das vorhandene Angebot“ (CIMA 2017, S. 17) des Einzelhandels fehle. Gleichzeitig aber betonen die Studienautoren, dass es dazu keiner „integrierten Shoppingfunktion“ (ebd.) bedarf, sondern einer „angemessenen Produkt- und Angebotssuche“ (ebd.).
Meiner Meinung nach ist das ein Fehlschluss. Ich frage mich: Wie will man ohne einer kritischen Masse an Produktdaten inkl. Angabe zu geführten Marken in den Geschäften (lediglich ein Attribut im Product-Feed) diese „angemessene“ Situation herstellen? Ohne ein Marktplatz-Modell, ohne einen Multi-Vendor Shop mit angeschlossenen Warenwirtschaften und Großdatenbanken von Verbundgruppen und Lieferanten bzw. Herstellern wird es schwierig mit der online-lokalen Relevanz. Auch in einer Kompromisslösung mit ausschließlicher Reservierungsfunktionalität (Check & Reserve) ohne Online-Bezahlung muss man in die Produktwelt einsteigen und Waren inklusive Bilder und Artikelbeschreibungen im Netz präsentieren.
„Einfache“ Lösungen gibt es nicht
Freilich gibt es bereits Versuche, auch ohne klassische E-Commerce-Funktionalitäten digitale City-Initiativen im Relevant Set des lokalen Kunden zu verankern. Größter Vorteil derartiger Plattformen ist die Integration von Branchen über den Einzelhandel hinaus. Innenstadtverortete Angebote von Dienstleistern, Handwerksunternehmen oder Gastronomen stehen so, mitunter angereichert durch weitere Informationen zu Mittagstischen, Parkplätzen oder Jobs, neben aktionsorientierten Profilen von Händlern. Unlängst ist z. B. in Osnabrück inosna.de als Schaufensterlösung an den Start gegangen.
Ich sehe hier jedoch die Warenverfügbarkeit, Online-Checkoutprozesse und in Teilen auch Lieferung oder Click & Collect vernachlässigt – zumal es aus Kundensicht wichtige Themen sind. Ich versuche diese Ansätze derzeit möglichst komplett auf LocalCommerce.info zu listen und unterteile sie in „lokale Online-Marktplätze mit Reservierungsfunktion“, „Online-Schaufenster ohne Shop- und Reservierungsfunktionalität“ sowie „Regionale Marktplätze ohne Shop-Funktionalität“. Gegenüber den „lokalen Online-Marktplätzen mit Shop-Funktionalität“ sind sie die vermeintlich einfacheren Lösungen, die nicht besonders schmerzhaft, d. h. moderationsintensiv sind.
Zum gleichen Thema habe ich dazu auch in einem Kommentar auf „Zukunft des Einkaufens“ reagiert, wo die Komplexität der Etablierung von lokalen Online-Marktplätzen zum Anlass genommen wird, um mehr oder weniger von der Umsetzung abzuraten. Ein bisschen mehr Mut und Durchhaltevermögen wünscht man sich an der einen oder anderen Stelle dann schon.
Genauso wenig halte ich im Übrigen von Generalabrechungen mit Local-Commerce-Initiativen (die gewählte reißerische Headline für meinen vorliegenden Beitrag nimmt zumindest rhetorisch darauf Bezug). Insbesondere E-Commerce-Fachjournalisten unterstellen digitalen Initiativen von Städten und Innenstadthändlern häufig, nicht entwicklungsfähig zu sein und gegen Amazon, Zalando & Co. ohnehin nicht bestehen zu können, weil es an Kompetenzen mangele.
Abgesehen davon, dass lokale Plattformen nicht dazu da sind, Amazon-Prime-Mitglieder für den stationären Einzelhandel vor der Haustür zurückzugewinnen, mangelt es dieser Perspektive eher am Verständnis des Gesamtzusammenhangs eines Einzelhandelsförderungsansatzes auf Basis einer digitalen City-Initiative. Dieser umfasst nämlich den Aufbau digitaler Infrastrukturen genauso wie er insbesondere den inhabergeführten Handel mittels Schulungen sensibilisiert und kompetent die Veränderungsbewegung zum zukunftsorientierten Handel(n) moderiert.
Der lokale Online-Marktplatz ist keine eierlegende Wollmilchsau – aber eine infrastrukturelle Investition in die Zukunft der digitalen Stadt
Im Strukturwandel des Einzelhandels, der immer auch ein Strukturwandel der City bedeutet, sind digitale Maßnahmen freilich nicht das einzige Mittel, um Disruption und verändertem Kundenverhalten zu begegnen. Neben klassischen Maßnahmen zur Steigerung der Aufenthaltsqualität in Zentren, einer ausgewogenen Genehmigungs- und Ansiedlungspraxis und – ganz wichtig – mehr Anstrengungen von stationären Händlern beim Ladenbau, der Kundenansprache und Sortimentspolitik, sind auch lokale Online-Marktplätze nur ein weiteres, dennoch aber wichtiges Werkzeug im Baukasten des Handelsmarketings, Stadtmarketings und City-Managements.
Und ganz entscheidend: Local-Commerce-Initiativen brauchen die Unterstützung möglichst vieler institutioneller, unternehmerischer und kommunaler Akteure (siehe Abb.). Mit Insellösungen oder konkurrierenden Systemen ist keinem geholfen. Nur mit einem hohen lokalen Vernetzungsgrad gelingt der notwendige (Online-)Reichweitenaufbau.
Aber vielleicht werden ja bald aufblasbare digitale City-Initiativen erfunden, die keinem weh tun, nichts kosten und sich selbstfahrend ohne Marketingbudget und Kümmerer zu Leuchttürmen der digitalen Stadt mausern. Mich würde es freuen – aber auch wundern.
Zitierte Quelle:
- CIMA Beratung + Management GmbH (2017): Gemeinsam online? Digitale City-Initiativen auf dem Prüfstand, 2. Umfrage Niedersachsen zum Status Quo bei Werbegemeinschaften/City- und Stadtmarketing. Lübeck.