Wie Digitalisierung den Lebensmittelhandel aufrüttelt.
Lebensmittel sind essentiell. Um den täglichen Bedarf meiner Familie zu decken, führt mich mein Weg in Super-, Getränke- und Drogeriemärkte sowie Metzgereien und Bäckereien. Die Waren bringe ich mit dem Auto, aber auch mal zu Fuß oder mit dem Rad nach Hause. Dieses Verhalten könnte sich zukünftig ändern – bei mir, bei meinen Nachbarn, bei Ihnen und jedem anderen in der Stadt und auf dem Land. Denn konditioniert durch den Online-Handel haben wir Konsumenten in den letzten Jahren gelernt, Produkte online zu bestellen, den Lieferweg nachzuverfolgen, zur richtigen Zeit die Bestellung in Empfang zu nehmen oder an einem bestimmten Ort abzuholen. Warum sollte das mit Lebensmitteln nicht auch funktionieren?
Onlinehandel von Lebensmitteln am Anfang
Bisher wird im deutschen Lebensmitteleinzelhandel online nur ca. ein Prozent erwirtschaftet. Insgesamt lag der Online-Umsatz in Deutschland 2016 bei rund zehn Prozent. Würde im Lebensmitteleinzelhandel dieser Durchschnittswert erreicht, würde mit 17,2 Mrd. Euro nahezu soviel umgesetzt, wie 2016 die Branchen Fashion/Accessoires, Wohnen und Einrichten, sowie Gesundheit und Wellness insgesamt.
Auf ganzer Breite startet der filialisierte Lebensmitteleinzelhandel (LEH) mit dem eCommerce für sein Sortiment. AmazonFresh ist das Reizwort der Branche. Rewe und Kaufland liefern selbst, Edeka mit Bringmeister, Feneberg mit eigener Lösung „Freshfoods“, aber gleichzeitig als Warenlager für AmazonPrime. Alle stellen sich der neuen Dynamik. Gleichzeitig verlangen wir online-verwöhnten Kunden garantierte Lieferzeitfenster, einen überschaubaren Preis, Frischegarantie und volle Auswahl. Die Folge: Kosten sind die zentrale Herausforderung für die Anbieter.
Das Karussell Lebensmittel-Online-Handel ist gerade erst angelaufen. Wir sehen aktuell im LEH mit rd. 25% zum Vorjahr die höchsten Wachstumsraten im Onlinehandel. Vor allem die bekannten und gewohnten Produkte des täglichen Bedarfs – vom Apfel bis zur Zahnpasta – schicken sich an, vom Konsumenten ungesehen den Versandweg anzutreten. Denn diese unterscheiden immer mehr zwischen lästigem Versorgungseinkauf und dem Genuss-Shopping von interessanten Spezialitäten. Und: die Customer Journey beginnt auf dem Sofa. Soll heißen die Käufe werden online initiiert. Was bedeutet das? Die Einkäufe werden digital bestellt. Der Bezug der Produkte findet jedoch auf physischem Wege statt, egal, ob von einem Lieferservice gebracht oder selbst an einer Stelle abgeholt. So weit, so gewöhnlich: Der Teufel steckt im Detail.
Neue Wege der Distribution im LEH
Anders als beim herkömmlichen eCommerce gibt es beim Handel mit Lebensmitteln bestimmte Gesetze und Vorgaben einzuhalten. Produkte zum Verzehr sind sensibel zu behandeln: die Lieferkette sollte möglichst kurz sein, die Kühlkette muss beachtet werden, die Verpackung der Nahrungsmittel sollte vor allem am Ablieferungsort nicht lange der Witterung ausgesetzt sein. Da sollte eine direkte Übergabe an den Verbraucher möglichst kurzfristig erfolgen. Das erfordert wiederum die persönliche Präsenz des Kunden oder geeignete Depots zur temporären Zwischenlagerung. Gleiches gilt, wenn Produkte vom Kunden abgeholt werden. Obwohl online bestellt wurde, fährt der Besteller zu einem Depot und lädt dort seine Order nur noch in das Transportmittel ein – ohne ein Geschäft zu betreten.
Der Online-Handel von Lebensmitteln, den wir kennen und künftig ohne nachzudenken mit nutzen, hat mehr Auswirkungen auf die Städte, als wir zunächst gedacht haben. Er tangiert die Infrastruktur, Verkehrsströme und -aufkommen. Er verändert Store-Konzepte und macht zukünftig ggf. herkömmliche Entwicklungsplanungen obsolet. Und das Ladenschlussgesetz? Für Online-Händler kein Thema.
Handlungsbedarf in Politik und Verwaltung
In Zukunft rückt nicht der Ort und die Verkaufsfläche eines Marktes, sondern der Weg (Customer Journey) vom Anbieter zum Kunden in den Fokus. Die Fragen von Verträglichkeiten im baurechtlichen Sinne werden ausgehebelt, denn das Warenlager für den Onlinehändler ist kein Einzelhandelsbetrieb, sondern ein Gewerbebetrieb. Planungsrechtliche Steuerung von virtuellen Regalen in Bebauungsplänen gibt es nicht. Der Verkehr ist hier ein harter Faktor, wenn bestellte Produkte vom Standort auf der letzten Meile ausgeliefert oder von Kunden abgeholt werden müssen. In Großstädten werden Fahrradbrindienste und Lastenräder vermehrt das Stadtbild prägen. Aber der Volumeneinkauf wird durch Kleintransporterflotten zugestellt werden müssen – schon heute stören warnblinkende Lieferwagen in zweiter Reihe.
Haben die Kommunen Handlungsbedarf? Ich meine ja. Die Auseinandersetzung mit der Zukunft des (Lebensmittel-) Einzelhandels in unseren Städten braucht eine positive Konfrontation mit den anstehenden Veränderungen und Bereitschaft, einen Handlungsrahmen zu definieren, der Chancen befördert – sowohl für den Kunden, als auch für ein attraktives und facettenreiches Unternehmertum. Bestenfalls haben Kunden in Zukunft eine bessere (Nah-) Versorgung. Die Beweisführung durch den Anbieterwettbewerb beginnt gerade erst.
Foto: AmazonFresh
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