Das Finale der „Dialogplattform Einzelhandel“
Zwei Jahre hat das IFH Institut für Handelsforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) Workshops abgehalten, Diskussionen moderiert, Dokumentationen geschrieben und Powerpoint-Folien gebastelt. Am 6. Juni 2017 nun kam es in Berlin unter den Augen der Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries zum Abschluss des Prozesses – vorläufig, denn ein Kompetenzzentrum könnte folgen.
Das deutete zumindest der Schlussredner Uwe Beckmeyer an. Er ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Wirtschaft und Energie, und weiß sicherlich, welche Erwartungshaltung er hiermit schürt. Sicherlich ist es nicht schwer zu erraten, wer den Hausmeister in diesem Kompetenzzentrum spielen würde.
Zwei Jahre Dialogplattform Einzelhandel
Mit der Dialogplattform Einzelhandel wurde die größtmögliche politische Bühne gefunden, um über den Strukturwandel im Einzelhandel zu sprechen und Lösungsansätze für Stadt und Handel gleichermaßen zu erarbeiten. Denn klar ist: Die allermeisten Anspruchsgruppen sehen zwar die erste Geige im Orchester der Stadt noch immer in der Hand des Handels liegen, die Frage ist nur: wie lange noch und mit welchen Saiten wird künftig gespielt? Die Digitalisierung jedenfalls ist immer mehr der eigentliche Dirigent dieses Orchesters.
Der Runde Tisch zur Zukunftsfähigkeit des Einzelhandels, an dem maßgeblich der Handelsverband Deutschland (HDE) sowie die Gewerkschaft ver.di beteiligt waren, wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) initiiert. Er griff neben der Nahversorgung im ländlichen Raum zentral das Thema Digitalisierung und deren Konsequenzen für Stadt und Handel auf. Dabei wurden in fünf Workshop-Reihen, zu denen Vertreter aus Städten und Gemeinden, Kammern und Verbänden, aber auch Einzelhändler, Handelsberater und Wissenschaftler geladen waren, Standpunkte und Lösungsvorschläge erarbeitet. Auch ich selbst konnte an einigen Terminen teilnehmen.
Man einigte sich auf insgesamt fünf themenbezogene Workshop-Reihen:
- Digitalisierung und technologische Herausforderungen
- Perspektiven für eine lebendige Stadt
- Perspektiven für den ländlichen Raum
- Perspektiven für Arbeit & Berufe
- Wettbewerbspolitik
In allen Workshop-Reihen spielten die Herausforderungen der digitalen Transformation wenn nicht eine zentrale, so doch eine wesentliche Rolle. Vor diesem Hintergrund ist auch die folgende Zusammenfassung der Veranstaltung zu lesen. Denn LocalCommerce.info geht es explizit um ein tieferes Verständnis des online-getriebenen Wandels für Stadt und Handel. Aber natürlich standen auch klassische Themen und Handlungsansätze wie Öffnungszeiten, Sicherheit, Sauberkeit, Erreichbarkeit, allgemeine wettbewerbsrechtliche Fragestellungen oder der Fachkräftemangel im Einzelhandel im Fokus.
Es muss aber gesagt werden, dass sich die Macher der Dialogplattform auch kritische Beurteilungen gefallen lassen müssen. So monieren Branchenvertreter den rein empfehlenden Charakter oder vermissen einen wirklich dauerhaften Dialog, der über die Sammlung von Stellungnahmen und Workshop-Dokumentationen hinausgeht und mit entsprechender (finanzieller) Unterstützung in die Regionen und Kommunen getragen werden kann.
Ministerin Zypries eröffnet: Nachbarschaft = Handel = Nachbarschaft
Kommen wir also zurück zur Veranstaltung. Diese begann mit einer durchaus charmanten Eröffnungsrede der Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries, gespickt mit Anekdoten aus dem Zypries’schen Konsumalltag – von liegen gelassenen Erdbeeren beim Blumenladen zum Beispiel, die ein lieber Nachbar der Bundesministerin persönlich hinterhergetragen hat. Erstes Ausrufungszeichen: Handel = Nachbarschaft, Nachbarschaft = Handel. Zweites Ausrufungszeichen: Politiker gehen tatsächlich noch im inhabergeführten Blumenladen einkaufen.
Aber die Gastgeberin der Veranstaltung konnte nicht nur die soziale Funktion des Handels entakademisiert auf den Punkt bringen, sie wusste auch, dass die „Online City Wuppertal“ mehr ist als nur ein lokaler Online-Marktplatz. Tatsächlich wird im zentralen Abschlussbericht der Dialogplattform jedoch kein einziges Mal das Wuppertaler Einzelhandelsförderungsmodell namentlich erwähnt – ausgenommen ein Best-Practice-Kasten beim Thema Weiterbildungsmaßnahmen im Abschlussbericht der Workshop-Reihe „Digitalisierung und technologische Herausforderungen“.
Gleichwohl hat die „Online City Wuppertal“ viele der Handlungsempfehlungen bereits umgesetzt: sei es die Erkenntnis, dass die digitale Transformation in Stadt und Handel auch „digitale Kümmerer“ im City-Management, Stadtmarketing oder Wirtschaftsförderung notwendig macht, oder die Notwendigkeit der Händlerschaft gerade angesichts von Amazon & Co. stärker online-lokal zu kooperieren, etwa auf „lokalen Plattformen“, wie es dann meist neutral heißt.
ANWR-Chef glänzt, HDE-Präsident heischt Beifall, ver.di in Verteidigungsposition
In der darauf folgenden Paneldiskussion mit der Ministerin, Josef Sanktjohanser (HDE), Stefanie Nutzenberger (ver.di), Günther Althaus (ANWR Group) und Roland Schäfer (Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebunds) verfranzte man sich etwas zu lange in der Sonntagsöffnung, die einmal mehr die Gräben zwischen Gewerkschaft und dem (filialisierten) Einzelhandel zutage treten ließ, aber eigentlich vom Kernthema des Panels „Der Einzelhandel in 2025 – die richtigen Strategien“ ablenkte. Hinzu kamen zwei äußerst peinliche selbstgeschaffene Werbeblöcke durch Meldungen aus dem Publikum.
HDE-Präsident Sanktjohanser erntete dennoch Zwischenapplaus für sein Plädoyer, die Sonntagsöffnung bundesweit wie in Berlin mit bis zu zehn Sonntagen im Jahr zu handhaben. Freilich wurde das „Waffengleichheits“-Argument gegenüber dem Online-Handel nur bedingt zu Ende gedacht. Allenfalls von Dialogplattform-Beiratsmitglied Stefanie Nutzenberger, deren Gewerkschaft auch gegen Sonntagsarbeit bei Amazon vorgeht.
Ihr Ruf nach „Rahmenbedingungen für zufriedene Arbeitnehmer, die Spaß und Freunde an ihrer Arbeit haben“ – also keine prekären Beschäftigungsverhältnisse und mies gelaunten Verkäufer im Einzelhandel – konnte sich nur bedingt gegen die markigen, gleichwohl aber auch sehr klugen Ausführungen von ANWR-Mann Günter Althaus durchsetzen: „No Data, no retail“ oder „lokale Initiativen mit eigenen Plattformen stärken“ waren seine Worte. Das strategische Investment in den Infrastrukturgeber atalanda erwähnte der Präsident des Mittelstandsverbunds ZGV jedoch nicht.
Roland Schäfer, der auch Bürgermeister der Stadt Bergkamen ist, forderte ein höheres Fördervolumen im Städtebau um den Herausforderungen von Stadt und Handel zu begegnen. Sein positiver Ausblick zum Schluss der Runde war Balsam auf die Seele all jener, die die gegenwärtige Aufregung um die vermeintlich brüchig gewordene Liasson zwischen Stadt und Handel ohnehin für übertrieben halten.
IFH-Arbeitsnachweis gelungen
Das Team des IFH präsentierte die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der BMWi-Initiative in einem Galopp vor der Kaffeepause. Die entsprechenden Veröffentlichungen stehen alle auf der Website der Dialogplattform zum Download bereit. Den Moderatoren und Autoren des IFH ist es durchaus gelungen, eine heterogene Gemengelage an Meinungen von unterschiedlichsten Anspruchsgruppen, die sich auf der Dialogplattform versammelt haben, in brauchbare Handreichungen für City-Akteure aus Verwaltung, Politik, Kommunalberatung und Handel münden zu lassen.
Die Polemik vonseiten der E-Commerce-Only-Verfechter ließ freilich nicht lange auf sich warten. Jochen Krisch von Exciting Commerce, der so etwas wie eine Fach-Fede mit den Forschern des IFH austrägt, ließ verlauten: „Will man den vielen gut gemeinten, aber weitgehend nutzlosen Handlungsempfehlungen zumindest etwas Positives abgewinnen, dann, dass sich immerhin die Erkenntnis durchsetzt, dass Städte und Gemeinden schon mal mit dem Rückbau ihrer Shoppingmeilen beginnen können.“
Ich bezweifle allerdings, dass der Branchenexperte für E-Commerce, der selbst nicht in Berlin anzutreffen war, sich die Mühe gemacht hat, tatsächlich alle Papiere und Dokumentationen zu lesen. Denn auch wenn die Handlungsempfehlungen in den Schlussberichten relativ allgemein formuliert sind und so keinem richtig weh tun, ist mit der Dialogplattform ein wichtiger, weil kompromissfördernder und breitenwirksamer Aufruf getan, dem Strukturwandel in Stadt und Handel standhaft, aber nicht illusorisch oder gar naiv entgegenzutreten: mit befähigenden Infrastrukturen, „Werkzeugen“ und „Modellprojekten“, wie die zusammenfassenden Handlungsempfehlungen lauten.
Alle Publikationen finden sich auf der Website der Dialogplattform zum PDF-Download: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Mittelstand/dialogplattform-einzelhandel-abschluss.html.
Duette ohne Misstöne: wenig Knistern, wenig Streit, sanfte Verteidigung der jeweiligen Hoheitsgebiete
Mit Podiumsgesprächen wurde die zweite Hälfte der Veranstaltung eingeläutet. Wer hier auf wirkliche Streitgespräche gehofft hat, wurde weitestgehend enttäuscht. Nichtsdestotrotz waren die von Angela Elis moderierten Gespräche nicht uninteressant.
Zunächst startete man mit einem Blick in die Digitalisierungsstrategien ganz unterschiedlicher Händler. Tatjana Steinbrenner, Geschäftsführerin des Kaufhauses Ernst Ganz in Bensheim, auf der einen und Jochen Mauch, Bereichsleiter Marketing & E-Commerce bei EURONICS, auf der anderen Seite. Der gemeinsame Nenner von beiden und gleichzeitig auch ein Erfolgsfaktor im Meistern mit der digitalen Transformation: Fehler zulassen.
Im Duett von HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth, der auch als Co-Vorsitzender des Beirats der Dialogplattform maßgeblich am Prozess beteiligt war, und dem bcsd-Vorstandsmitglied Michael Gerber trafen dann doch unterschiedliche Weltbilder aufeinander – grob eingeteilt in eine Welt des filialisierten und eine Welt des inhabergeführten Handels. Genth versuchte die gegenwärtigen Digitalisierungsmaßnahmen in den Städten zu relativieren und machte deutlich, dass er nicht sonderlich an einen online-lokalen Zusammenhang glaubt, sprich: von lokalen Online-Marktplätzen hält er offenbar wenig, mutmaßlich aber viel, wenn sich eBay daran beteiligt. Letzteres wurde auf dem Podium zwar nicht geäußert, trat aber vor einigen Monaten bereits offenkundig zutage (siehe Kritik zur Veranstaltung „Lokal und digital“). Genth hat aber natürlich recht, wenn er die Magnetwirkung von Innenstädten nicht nur an wie auch immer gearteten Online-Sichtbarkeitsmodellen festmacht, z. B. am teils sehr starren Denkmalschutz, der Flächenoptimierungen mitunter schwierig macht.
Genth sah sich auf dem Podium allerdings auch gezwungen, eine im Vorfeld der Abschlussveranstaltung zitierte Äußerung von ihm in der WELT gerade zu rücken. In vielen Städten müssten die Fußgängerzonen „gesundgeschrumpft“ werden, hieß es dort. Das Vorzimmer des HDE-Hauptgeschäftsführers hatte offensichtlich viel zu tun nach dieser Aussage, obwohl er doch nicht mehr und auch nicht weniger ausdrückte als das, was der HDE seit längerer Zeit prognostiziert: ein Ladensterben insbesondere im kleinen und mittelständischen Handel.
Die härteste Nuss: der ländliche Raum
Den letzten Slot „Kreative Konzepte zur Versorgung auf dem Land“ belegten zwei Personen, deren Interessen nicht unterschiedlicher sein könnten: Heinz Frey, Gründer und Geschäftsführer der DORV UG und DORV-Quartier GmbH, der sich leidenschaftlich für multifunktionelle Versorgungszentren in ländlichen Regionen einsetzt und Digitalisierung hier als Chance betrachtet. Und der Leiter der REWE-Standortentwicklung für Deutschland Christian Schneider, der sachlich und nüchtern die betriebswirtschaftliche Seite der Nahversorgung in bevölkerungsarmen Regionen auf den Tisch legte – allerdings auch keine Katze aus dem Sack holte, was das Engagement seines Unternehmens in Richtung Depots, Knotenpunkte, Lieferkonzepte etc. für ländliche Regionen betrifft. Die Großfläche in Fachmarktlage bei angenommen gleich starker Mobilitätsbereitschaft einer älter werdenden Bevölkerung wird uns als Standardmodell noch lange erhalten bleiben. Kreativität sieht anders aus.
Den Schlussakkord ließ, wie oben beschrieben, Staatsekretär Uwe Beckmeyer erklingen. Es war – um in der Musikersprache zu bleiben – ein Turnaround mit einem Siebener-Kreuz-Neun-Akkord. Getreu dem Motto: Nach dem Finale ist vor dem Finale. Despektierlich betrachtet heißt das: Wenn uns nichts mehr einfällt, eröffnen wir ein Kompetenzzentrum für den Einzelhandel. Der Dialog geht also weiter.
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